„Den Spitznamen Diego verstehe ich als Ehre“
Guido Buchwald war zweimal Deutscher Meister mit dem VfB Stuttgart und einer der Garanten für den WM-Triumph 1990. Ein Interview über sein Duell im WM-Finale gegen Diego Maradona, seine Verbindung zu Japan – und warum er die heutigen Fußballprofis nicht beneidet.
Herr Buchwald, den 60. Geburtstag feiert man eigentlich im großen Kreis. Wegen Corona wird das kaum gehen, oder?
Nein, momentan ist das nicht möglich. Wir werden entsprechend den Regeln im allerkleinsten Familienkreis bleiben. Vielleicht mache ich eine Feier, wenn sich die Lage wieder etwas entspannt hat. Oder ich feiere nächstes Jahr den 61. groß – 60 ist ja auch nur eine Zahl.
Wissen Sie noch, wie Sie Ihren 30. Geburtstag gefeiert haben?
Ehrlich gesagt habe ich den auch kaum gefeiert. Wir waren damals mit dem VfB Stuttgart schon im Trainingslager für die Rückrunde. Das war während meiner Karriere eigentlich immer so. Dafür habe ich den 40. groß gefeiert, als ich endlich Zeit dafür hatte. Der 40. war wichtig, weil es bei uns im Schwabenland so einen Spruch gibt: Mit 40 wird der Schwabe g’scheit.
Apropos feiern: Besonders Anfang der 90er hatten Sie einiges zu feiern, allen voran den WM-Sieg 1990. Was ist Ihnen davon bis heute besonders im Gedächtnis geblieben?
Ehrlich gesagt war es das ganze Turnier. Schon in der Vorbereitung hatten wir eine super Stimmung. Teamchef Franz Beckenbauer hat im Trainingslager in Kaltern in Südtirol eine richtige Wohlfühlatmosphäre geschaffen. Italien war 1990 das Fußballland Nummer eins, viele Mitspieler spielten schon für italienische Vereine – Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann für Inter Mailand oder etwa Rudi Völler und Thomas Berthold für den AS Rom. Das hat uns sicher auch geholfen. Außerdem haben wir einen tollen Teamspirit entwickelt. Denn im Fußball kannst du noch so viele gute Spieler haben, wenn du keine funktionierende Mannschaft aus ihnen machst, hast du keinen Erfolg.
Ab wann dachten Sie: Das Turnier können wir gewinnen?
Vor dem Turnier waren wir einer der Favoriten. Als wir dann das erste Vorrundenspiel gegen Jugoslawien souverän mit 4:1 gewonnen haben, dachte ich schon: Das kann unser Turnier werden. Aber es gab auch das Viertelfinale gegen die ČSSR. Wir hatten zwar 1:0 gewonnen, dabei aber nicht überzeugt. Das hat Franz Beckenbauer natürlich gespürt, er wusste, was eigentlich in uns steckt. Nach dem Spiel hat er uns in der Kabine zusammengestaucht. Bis Andi Brehme in seiner trockenen Art gesagt hat: „Übrigens Trainer, wir haben gewonnen, wir stehen im Halbfinale.“ Da ist der Kaiser einfach wortlos aus der Kabine. Aber er hatte sein Ziel, uns wachzurütteln, erreicht.
Eine Frage, die Ihnen wahrscheinlich oft gestellt wird: Was dachten Sie vor dem Finale, als Sie gegen Diego Maradona spielen sollten?
Ich kannte ihn als Gegenspieler schon aus dem UEFA-Cup-Finale 1989 mit Stuttgart gegen Napoli. Vieles, was er auf dem Platz gemacht hat, konnte man nicht lernen. Was er im Fußball geleistet hat, war unglaublich. Als Franz Beckenbauer vor dem Finale gesagt hat: „Maradona ist dein Mann“, hatte ich natürlich großen Respekt vor der Aufgabe.
Was war Ihr Rezept gegen ihn?
Wenn er mit dem Ball auf dich zugelaufen kam, war es fast unmöglich, ihn zu stoppen. Es klingt zwar altmodisch, aber mein Rezept war, ihm die Lust am Fußball zu nehmen. Also ihn mir so zu stellen, wie ich ihn haben wollte: Am besten mit dem Rücken zu mir, versuchen, ihn an die Außenlinie zu drängen. Dann konnte er sich nicht in alle Richtungen drehen, sondern nur an einer Seite vorbeigehen.
Haben Sie während des Spiels auch mit ihm gesprochen?
Nicht direkt gesprochen. Aber nach jedem Zweikampf habe ich gemerkt, wie seine Augen müder, wie er unzufriedener wurde. Das hat mich natürlich zusätzlich motiviert. Ich denke, mein Plan ist ganz gut aufgegangen.
Maradona ist Ende November im Alter von gerade einmal 60 Jahren verstorben. Was waren Ihre Gedanken, als Sie davon erfahren haben?
Ich war einfach nur traurig. Auf dem Platz war er einer der Größten und wurde überall verehrt. Auch in Deutschland. Damals waren auch hier viele Menschen mit seinem Trikot auf den Straßen zu sehen. Aber wenn man ihn mit anderen Legenden des Weltfußballs vergleicht, etwa mit Pelé, Franz Beckenbauer oder Johan Cruyff, dann muss man leider sagen: Er hat sein Privatleben nach dem Ende seiner Karriere nicht im Griff gehabt.
Bei der WM 1990 haben Sie auch den Spitznamen „Diego“ bekommen.
Am Anfang war mir der Name gar nicht so recht. Ich war immer Fußballarbeiter, kein Künstler. Aber mit der Zeit habe ich es als Ehre verstanden. Manchmal haben mich im Ausland ein paar Fußballverrückte erkannt, bloß meinen Namen hatten sie nicht gleich parat. Was sie aber wussten, war: „Diego“.
Erklären Sie uns gern kurz, wie es zum Spitznamen kam.
Den Namen hat mir Klaus Augenthaler schon im Vorfeld der WM verpasst – und dann habe ich in diesem verrückten Spiel gegen die Niederlande vor meiner Flanke zum 1:0 einen Übersteiger gemacht. Im WM-Finale hat TV-Moderator Gerd Rubenbauer dann vor zig Millionen Zuschauern gesagt: „Wir haben unseren eigenen Diego.“ Damit war der Spitzname endgültig in der Welt. Aber wie gesagt: Ich sehe es heute als Ehre.
Der Übersteiger hatte in Ihrem Spiel Seltenheitswert. Was waren als Spieler Ihre Stärken?
Eindeutig die Zweikampfführung. Ich habe meist im defensiven Mittelfeld gespielt, damals sagte man Vorstopper. Oder als Achter. Da war Zweikampfstärke wichtig, man musste schnell antizipieren. Aber auch das Umschaltspiel würde ich als eine meiner Stärken bezeichnen.
Würden Sie gern mit den Profis von heute tauschen?
Ja und nein. Auf der einen Seite hat man als Spieler heute viel mehr Möglichkeiten, individuell an sich zu arbeiten. Ein Trainerstab ist viel größer als zu meiner aktiven Zeit. Auf der anderen Seite waren wir damals ein Stück weit anonymer. Im Gegensatz zur heutigen Generation konnten wir uns ein paar Dinge mehr erlauben, weil es noch keine Smartphones und soziale Medien gab.
Ihr Schritt nach Japan 1994 war damals für viele eine Überraschung. Wie kam es dazu?
Ich hatte immer schon den Wunsch, auch mal im Ausland zu spielen, um meinen Horizont zu erweitern. Schon 1990 hatte ich ein super Angebot aus Italien. Aber damals waren Wechsel noch schwieriger, der VfB wollte mich nicht um jeden Preis ziehen lassen. Im Nachhinein war es auch gut so, immerhin sind wir 1992 noch mal Deutscher Meister geworden. 1994 war es dann soweit. Ich bin nach der WM in den USA aus der Nationalmannschaft zurückgetreten und bekam ein wirklich gutes Angebot aus Japan von den Urawa Red Diamonds. Da war ich 33, es war klar, dass die ganz großen europäischen Klubs keine Option sind. Also habe ich mit Pierre Littbarski und einem Freund in Japan telefoniert. Dann habe ich mit meiner Familie entschieden: Wir machen das. Eine Entscheidung, die ich bis heute nie bereut habe.
Was hat Sie an Japan fasziniert?
Die Menschen sind immer freundlich und hilfsbereit. In der U-Bahn sitzt ein Spitzenmanager neben einem einfachen Angestellten und beide unterhalten sich ganz selbstverständlich. Außerdem finde ich es immer wieder unglaublich, wie sicher und sauber Tokio ist. Der Mix aus Moderne und Tradition ist einfach toll. Ich habe mich dort von Anfang an geborgen und zu Hause gefühlt.
Gibt es eine Anekdote aus dem Alltag, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben ist?
Als ich als Trainer in Japan gearbeitet habe, kam mein Sohn zu Besuch. Wir waren in der Zwischenzeit umgezogen. Auf dem Weg zu unserem neuen Haus hat er sich irgendwie verlaufen. Es war Sommer, bestimmt 35 Grad. Er war gerade gelandet, hatte nichts zu trinken dabei, kein Geld, nichts. Dann ist er zu einem kleinen Polizeihaus und hat auf Englisch versucht, mit dem Polizist zu sprechen. Mit Englisch kommt man in Japan aber nicht so weit. Der Polizist hat aber „Urawa Red Diamonds“ und „Trainer“ verstanden und rief dann beim Verein an. Dadurch wusste er meine richtige Adresse und hat meinen Sohn mit dem Dienstfahrrad nach Hause gefahren. So was vergisst man nie.
Big in Japan: Der 1,88 Meter große Fußball-Weltmeister war in der japanischen J-League ein Star: Erst als Spieler für die Urawa Red Daimonds, später als Trainer.
Big in Japan: Der 1,88 Meter große Fußball-Weltmeister war in der japanischen J-League ein Star: Erst als Spieler für die Urawa Red Daimonds, später als Trainer.
Nach Ihrer Spielerkarriere sind Sie dem Fußball als Trainer und Funktionär treu geblieben. Gibt es auch Karriereschritte, die Sie heute anders machen würden?
Klar, es gibt immer Dinge, die man im Nachhinein anders entscheiden würde. Manches hätte ich hier und da deutlicher ansprechen sollen. Aber das Interessante im Leben ist ja, auch mit Niederlagen klarzukommen. Dann freut man sich umso mehr über Erfolge. Das große Ganze würde ich heute genauso machen. Ich bin rundum zufrieden.
Was würde der 60-jährige Guido Buchwald dem 20-jährigen Guido Buchwald raten?
Vielleicht früher ins Ausland zu gehen. Mehr Selbstbewusstsein zu haben. Denn oft ist die Leistung in jungen Jahren deutlich besser, als man das selbst einschätzt.
Mit 60 gehen einige Menschen schon in Vorruhestand. Was machen Sie? Sind Sie dem Fußball noch verbunden?
Sehr! Ich bin Botschafter der japanischen Liga, daher war ich zumindest vor Corona häufiger in Japan und habe regelmäßig Spiele der J-League angeschaut. In normalen Zeiten bin ich auch bei jedem Heimspiel des VfB Stuttgart dabei. Außerdem habe ich eine Marketing-Agentur, eine Tennishalle mit Sportshop; ein Restaurant betreibe ich auch noch. Und wenn es Corona erlaubt, gebe ich viel Jugendtraining und trete bei Promispielen für gute Zwecke selbst noch gegen den Ball. Mir wird also nicht langweilig. Aber man denkt mit 60 schon daran, etwas kürzer zu treten.