Die Deutsche Fußball-Einheit
Beim Länderspiel zwischen Deutschland und der Schweiz am 19. Dezember 1990 stehen erstmals seit 48 Jahren Spieler aus beiden Teilen Deutschlands in einer Mannschaft. Andreas Thom erinnert sich an das historische Spiel und sein unvergessenes Tor.
Es ist kalt und ungemütlich in Stuttgart an diesem Dezembertag. Hinter den Werbetafeln liegt Schnee, auf der Ersatzbank mummeln sich Bundestrainer Berti Vogts und die Ersatzspieler in dicke, graue Wolldecken ein. Bevor sich die Stars aus der Bundesliga und die Legionäre aus der italienischen Serie A in ihren wohlverdienten Weihnachtsurlaub verabschieden dürfen, hat der DFB zum Freundschaftsspiel gegen die Schweiz geladen.
Es ist nicht irgendein Länderspiel. Es ist der Abschluss eines denkwürdigen Jahres – und das nicht nur für Fußball-Deutschland: Im Sommer triumphiert Franz Beckenbauers Team in Italien und macht Deutschland zum Weltmeister. Für den „Kaiser“ ist danach klar: „Auf Jahre hinaus wird unsere Nationalmannschaft unschlagbar sein.“ Am 3. Oktober wird offiziell die politische Wiedervereinigung besiegelt und nach der Auflösung des DDR-Fußballverbandes am 20. November ist schließlich die fußballerische Einheit vollzogen.
Eine Einheit auch im Fußball
Stuttgart ist am 19. Dezember 1990 Austragungsort des sogenannten „Wiedervereinigungsspiel“. Allerdings strömen an dem Mittwochabend nur 20.000 Zuschauer ins Neckarstadion. Der Kicker bemängelt danach, dass „der Rahmen nicht ganz der Bedeutung des Spieles entsprach“. Immerhin treffen erstmals die Spieler aus der Weltmeister-Mannschaft mit der Crème de la Crème des ostdeutschen Fußballs zum gemeinsamen Länderspiel zusammen. Fünf Spieler aus der ehemaligen DDR hat Berti Vogts in den Kader berufen: Die Sachsen Matthias Sammer (VfB Stuttgart) und Ulf Kirsten (Bayer Leverkusen), den Ostberliner Andreas Thom (ebenfalls Bayer Leverkusen), Thomas Doll (Hamburger SV) aus Mecklenburg und den Thüringer Perry Bräutigam (Carl Zeiss Jena).
Vom DDR-Quintett spielt zu Beginn nur Matthias Sammer. Nachdem Schiedsrichter Carlo Longhi anpfeift, setzen dann aber erst mal andere die Akzente. Schon nach 28 Sekunden erzielt Rudi Völler (AS Rom) nach Zuspiel von Jürgen Klinsmann (Inter Mailand) die deutsche Führung. Das konnte ja heiter werden für die Schweizer. Doch der verstärkte Weltmeister belässt es in der ersten Halbzeit bei einem Tor.
Auch in der zweiten Hälfte sind die DFB-Spieler zunächst gnädig mit ihrem Gegner. Klinsmann verschießt in der 55. Minute sogar einen Elfmeter. Elf Minuten später schlägt es aber doch wieder im Kasten von „Goalie“ Martin Brunner ein. Nach maßgenauer Flanke von Lothar Matthäus steigt Karl-Heinz „Air“ Riedle (Lazio Rom) unnachahmlich hoch und köpft kraftvoll zum 2:0 ein. In der 74. Minute verlässt Sammer den Platz, für ihn kommt Thom.
Andy Thom trifft historisch
Thom ist ein Jahr zuvor als erster Spieler aus der DDR-Oberliga in die Bundesliga gewechselt. 2,5 Millionen Mark überweist Bayer Leverkusen im Dezember 1989 an den BFC Dynamo Berlin. 1990 gilt er als einer der antrittsschnellsten Spieler der Bundesliga. In Stuttgart kommt er als zweiter Ex-DDR-Auswahlspieler zu seinem Debüt. Und zu was für einem. Denn schon 25 Sekunden später wird es historisch. Der heute 55-Jährige erinnert sich: „Es gibt Ecke für uns, der Ball wird verlängert und landet bei mir. Ich lege ihn mir noch mal vor und schieße. Langes Eck. 3:0.“ Es ist das erste Tor eines ehemaligen DDR-Spielers für die deutsche Nationalmannschaft – und das bis dahin schnellste Jokertor im DFB-Team. Matthäus setzt mit dem späteren Tor des Monats den Schlusspunkt des Abends. Aber die Schlagzeilen gehören Thom, der nach dem Spiel ein gefragter Interviewpartner ist.
30 Jahre später ist der Berliner längst wieder in seine Heimat zurückgekehrt. Als Individual-Techniktrainer arbeitet er bei Hertha BSC, sowohl mit den Profis als auch mit dem Stürmernachwuchs. Spricht man ihn auf das historische Spiel an, erinnert sich Thom vor allem an die kalten Temperaturen und das beeindruckende Zusammentreffen mit den Italien-Legionären. Seinem eigenen Treffer misst er dagegen keine allzu große Bedeutung bei. „Es war natürlich schön für mich, so einen perfekten Einstand in der Nationalmannschaft zu haben. Aber dass ich ein historisches Tor geschossen habe, war mir damals nicht bewusst“, sagt er. „Auch 30 Jahre später würde ich das Tor nicht an die große Glocke hängen“, gibt sich Thom bescheiden. Doch sein Tor hat die Einheit nun auch im Fußball besiegelt.