EM 1988 - Deutschland vs. Niederlande - Sieg

Ein Fußballspiel, viel länger als 90 Minuten

Als das DFB-Team in der EM-Qualifikation 2019 auf die Niederlande trifft, ist für Bas Timmers klar: Er muss dabei sein. Denn hier spielt seine Heimat gegen das Land, in dem er seit sieben Jahren lebt. Über ein Spiel mit Geschichte und eine Elf mit Zukunft.

Deutschland gegen Holland, in Hamburg? Jüngere Fans denken dann an den 6. September 2019, den Abend, an dem Frenkie de Jong und Memphis Depay beim 4:2-Sieg der Niederländer zum Albtraum der deutschen Fans wurden. Vor 1980 geborene Holländer denken an ein anderes Datum. Sie denken an den 21. Juni 1988, an das EM-Halbfinale.

Es war ein Dienstagabend; ich muss nicht mal googeln, um das zu wissen. Der Tag ist in mein Gehirn tätowiert wie die Siegessäule auf meinem Rücken, die ich dort zu Ehren meiner neuen Heimat Berlin trage. Deutschland hatte sich durch das Turnier ins Halbfinale gequält, spielerisch selten überzeugt. Die Fans in Oranje fanden die Deutschen lustig, mehr nicht. Für meine Landsleute war es aber die Möglichkeit, zwei Traumata zu besiegen: die Niederlage im WM-Finale 1974 und, ja, auch den Zweiten Weltkrieg.

Klar: Das sind zwei völlig unterschiedliche Ereignisse, es ist unvernünftig und unverhältnismäßig, sie gemeinsam zu erwähnen – aber in der niederländischen Seele sind sie zusammengeschmolzen zu einem Berg von Frust, viel höher, als Deutsche sich vorstellen konnten. ‘Deutschland’ stand sinnbildlich für Arroganz, für Schwalben, für sportliche Ungerechtigkeit. Es denen zeigen, das wär‘s.

Schmutzige Geschichten

Vor diesem Hintergrund, wie soll ein Fußballspiel da normal verlaufen? Die Bilder des Spiels im kollektiven Gedächtnis sind ein sich mit dem Trikot des Gegenspielers den Hintern abwischender Niederländer und sein tobender Torhüter, der einen verletzten Deutschen anbrüllt. Puh.

Ich selbst war an diesem Abend zu Hause, obwohl ich Karten für das Spiel hatte. Mein Vater aber erlaubte es seinem damals 15-jährigen Sohn nicht, am Tag vor einer wichtigen Prüfung nach Hamburg zu reisen. Ich saß rechts vor dem Fernseher, so nah es geht am Bildschirm. Links auf der großen Couch saßen meine Eltern. Wir waren bei den Gruppenspielen gegen die UdSSR (Köln) und England (Düsseldorf) dabei gewesen. Heute waren wir im psychologischen Käfig, vor dem Fernseher.

Am Anfang lief es so, wie es oft gegen die Deutschen lief. Holland dominierte, die Deutschen konterten nur, und dann gab es ja eine für uns als völlig objektive Zuschauer in den Niederlanden ganz klare Schwalbe von Klinsmann, die mit einem Foulelfmeter belohnt wurde. Würde es uns wieder passieren, unverdient zu verlieren? Wie 1974?

Wenn es schon Fußballgötter gibt, schauten die an dem Abend aber auf jeden Fall zu. Denn als Ausgleich bekam Oranje auch einen, zugegeben fragwürdigen Elfer. Und als dann kurz vor Schluss Marco van Basten mit einer Grätsche irgendwie das zweite und entscheidende Tor erzielte, sprang mein Vater buchstäblich bis an die Decke. Er drückte mich an sein Herz, wie er mich vorher und nachher nie mehr an sein Herz gedrückt hat. Er weinte, wie ich ihn danach nur noch zweimal habe weinen sehen. Und da war mir klar: Für diese Generation, die so ungern über ihre Gefühle spricht, hat dieses Spiel eine ganz besondere Bedeutung.    

Ein Niederländer in Berlin

Nach den hässlichen Spielen Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre wurde die Lage glücklicherweise entspannter. Es gab, so merkte ich und so merkten immer mehr Niederländer meiner Generation, sehr viele sehr nette Deutsche. Als ich in 2012 nach Berlin umzog, gab es nicht einmal mehr Proteste meiner Eltern.

Als nun 2019 Deutschland in der EM-Qualifikation auf Holland traf, war ich natürlich dabei. Weil, ja, auch für mich dieses Spiel noch immer eine überdurchschnittliche Bedeutung hat. Heute ist das aber eher eine gesunde Rivalität und ich als Fußballliebhaber fand es spannend, bei diesem Spiel zwei Mannschaften zu sehen, die offensiv spielen möchten.

So saß ich an diesem Spätsommerabend mit meinem besten Kumpel, auch ein Holländer, in Hamburg zwischen lauter Deutschen. Was vor allem bei der Nationalhymne peinlich war, als meine göttliche Stimme ziemlich alleine durch den Block klang und es einige überraschte Blicke gab. Verdammt noch mal, wo kommt der Oranje her?

 

BAS, BIST DU DABEI? WIR HABEN DEUTSCHLAND WIEDER BESIEGT!

 

Aber das Holland von 2019 ist anders. Wir dominierten, wir waren frecher, wir waren besser. Und sogar ein tatsächlich extrem fragwürdiger Elfmeter zum zwischenzeitlichen Ausgleich konnte uns nicht bremsen. Gegen Deutschland zu gewinnen, ist dann doch eine größere Genugtuung, als wenn wir gegen andere Länder spielen.

Gegen 22.20 Uhr bekam ich eine Nachricht bei WhatsApp. Mein Vater schrieb: „BAS, BIST DU DABEI? WIR HABEN DEUTSCHLAND WIEDER BESIEGT! FANTASTISCH!“

Mein Vater schickt nicht immer großgeschriebene Nachrichten. Auch er scheint sich besonders gefreut zu haben. Geweint aber hat er nicht mehr, und wäre ich in Holland gewesen und hätte dieses Spiel mit ihm gesehen, so fest wie 1988 hätte er mich sicher nicht mehr gedrückt.

Denn die Zeiten haben sich geändert und damit das Verhältnis zwischen Deutschland und Holland. Die deutschen Fans um uns rum klatschten uns ab, gratulierten uns, und nicht nur aus Höflichkeit, auch als Wertschätzung für die Art und Weise, wie wir gespielt haben. Wir tranken noch ein Bier auf den Sieg in Hamburg, dann noch eins, aber dann war auch gut. Deutschland gegen Holland ist mehr als ein Fußballspiel und wird es immer bleiben, aber der Groll ist weg, der Hass. Und das ist vielleicht das Einzige im Fußball, was noch schöner ist als ein Sieg gegen Deutschland.    

Das ist Bas Timmers

Das ist Bas Timmers im WM Stadion in Moskau
Auf Reisen: Bas Timmers im Stadion während der Weltmeisterschaft 2018 in Russland.

Bas Timmers ist seit seiner Kindheit Fußballfan. Sein Lieblingsverein in seiner Heimat ist Ajax Amsterdam. In seiner neuen Heimat Berlin hat er sein Herz an Union Berlin verloren. Sein schönster Moment an der Alten Försterei: der Aufstieg in die Bundesliga 2019 in der Relegation gegen den VfB Stuttgart.

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